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Mikhail Zygar

Putins Propaganda Wie der Atomkrieg in Russland populär wurde

Mikhail Zygar
Ein Kolumne von Mikhail Zygar
Vor zehn Jahren hätte kein vernünftiger Politiker oder Publizist in Russland gewagt, einen nuklearen Schlag gegen den Westen zu rechtfertigen. Das hat sich verändert – auch weil der Kreml die Normen verschoben hat.
Russlands Präsident Putin bei der Militärparade am 9. Mai in Moskau

Russlands Präsident Putin bei der Militärparade am 9. Mai in Moskau

Foto: KIRILL KUDRYAVTSEV / AFP

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Die Rede von Wladimir Putin auf der Militärparade in Moskau am 9. Mai hat viele Beobachter aufatmen lassen. Man erwartete, dass er einen Atomschlag, eine Generalmobilmachung oder den Beginn des dritten Weltkriegs ankündigen würde – stattdessen wiederholte er nur das Mantra, wonach der Angriff auf die Ukraine »erzwungen« war, denn sonst hätte die Nato angeblich Russland angegriffen. Er sagte auch (erneut), dass es gar keine Ukraine gebe, und dass russische Soldaten »auf eigenem Boden kämpfen«.

Es war eine weitere Geschichtsvorlesung von Putin, wenig Neues. Dann war die Rede also doch keine große Sache, werden viele sagen. Nein, denn wenn wir das alles vor einem Jahr gehört hätten, wären uns die Haare zu Berge gestanden – aber in nur einem Jahr hat sich unsere Vorstellung davon, was normal ist und was verrückt, radikal verändert.

Diese Verschiebung der Norm ist Putins eingeübte Vorgehensweise. Er macht das meisterhaft, und zwar mit der Hilfe anderer Leute. Es ist wie das klassische Good-cop/bad-cop-Spiel – offenbar hat der sowjetische Geheimdienst KGB diese Art von Rollenspielen oft und sehr effektiv eingesetzt.

Ein Paradebeispiel ist die Art und Weise, wie sich der Kreml kürzlich mit Israel angeblich zerstritten und dann wieder versöhnt hat. Es begann damit, dass Außenminister Sergej Lawrow sagte, dass »auch Hitler jüdisches Blut hatte«, was bedeutet, dass auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj trotz seiner jüdischen Abstammung ein Nazi sein kann. »Es bedeutet absolut nichts«, sagte der Diplomat, »denn ein weises jüdisches Volk sagt, dass die bösartigsten Antisemiten gewöhnlich Juden sind.«

Die israelische Führung war empört, und Israels Außenminister Yair Lapid nannte Lawrows Worte »einen historischen Fehler«. Doch das russische Außenministerium griff weiter an. Lawrows Sprecherin Maria Sacharowa etwa erklärte, israelische Söldner kämpften in der Ukraine »Schulter an Schulter« mit dem nationalistischen Asow-Regiment.

Diese aggressive Haltung der Diplomaten war überraschend. Schließlich schien Israel bis vor Kurzem einer der loyalsten Verbündeten Russlands zu sein, während Präsident Selenskyj den israelischen Premierminister Naftali Bennett beschuldigte, der Ukraine die Kapitulation anzubieten. Doch dann erschien Putin und legte den Konflikt zwischen Russland und Israel bei. Er rief Premierminister Bennett an und entschuldigte sich für die Unhöflichkeit seines Außenministeriums.

Haben Putins Diplomaten ihn im Stich gelassen? Nein, ganz im Gegenteil. Er ist offensichtlich sehr zufrieden. Er hatte die Möglichkeit, gemäßigt und entgegenkommend aufzutreten und gegenüber Israel als das kleinere Übel zu erscheinen. Diesen Trick wendet er seit Langem mit großem Erfolg an – er zeigt, dass alle um ihn herum noch schlimmer sind als er selbst, radikaler, blutrünstiger, dümmer. Und selbst wenn er nicht perfekt ist – ohne ihn, so die Andeutung, wird es noch viel schlimmer sein.

Dies ist eine Technik, die Putin seit Jahren in der Innenpolitik anwendet. »Wenn nicht Putin, wer dann?«, lautete der Slogan, den die Kreml-Propaganda während der Massenproteste 2012 gegen die Opposition zu verwenden versuchte, um zu versichern, dass es in Russland keine vernünftigen Oppositionsführer gibt. Wenn in Russland faire Wahlen abgehalten werden, werden die Faschisten an die Macht kommen, schrieb die RT-Chefredakteurin Margarita Simonyan zu jener Zeit.

Damals gab es in Russland zwei populäre Diskurse: erstens einen demokratischen, prowestlichen mit Slogans, zu denen Hunderttausende von Demonstranten auf die Straße gingen, um gegen die Wiederwahl Putins für eine dritte Amtszeit zu protestieren. Zweitens einen konservativen, etatistischen, der von der staatlichen Propaganda verteidigt wurde. Ultranationalistischer, imperialistischer Radikalismus wurde als seltene Ausnahme betrachtet.

Doch nach den Massenprotesten von 2012 begann der Kreml damit, die Agenda zu ändern. Seither haben etliche Publizisten und Politiker eine ultra-imperialistische Haltung eingenommen. Während bis dahin nur Wladimir Schirinowski, ein Marionetten-Nationalist mit dem Ruf eines Clowns, diese Ansicht öffentlich vertreten hatte, erweiterte sich das Spektrum: Die Imperialisten begannen sich zu vermehren, wurden ständig in die Talkshows der staatlichen Fernsehsender eingeladen, erhielten Sendezeit im Radio und bekamen Platz in Zeitungen, die zuvor als anständig galten. Der Pro-Putin-Konservatismus wurde plötzlich zum Zentrum, zum gemäßigten Mainstream, während der imperiale Nationalismus und die liberale Demokratie als Flanken wahrgenommen wurden. Je weiter man sich von diesem Zentrum entfernte, desto mehr Raum nahm das aggressive Predigen über eine russische Expansion ein – und der normale Diskurs über Demokratie, Menschenrechte und globale Werte erschien zunehmend marginal und naiv.

Innerhalb eines Jahrzehnts hatte sich die Vorstellung von der Norm verschoben. Auch die Stimmung in der Gesellschaft veränderte sich. Eines der wichtigsten Instrumente zur Förderung einer radikalen Agenda waren und sind die sozialen Medien sowie die Troll- und Botfabriken, die dort immer aktiver werden. Sie haben eine erstaunliche Aufgabe erfüllt, indem sie lautstark und konsequent Ansichten verteidigt haben, die bis vor Kurzem noch beschämend erschienen. Vor zehn Jahren hätte es kein vernünftiger russischer Politiker oder Publizist gewagt, zu schreiben, dass ein Atomkrieg gegen den Westen in irgendeiner Weise gerechtfertigt sein könnte. Nur Verrückte, die sich hinter anonymen Internetkonten verstecken, hätten das tun können.

Kannibalistische, menschenverachtende Appelle

Aber sie haben gute Arbeit geleistet. Sie haben eine Geräuschkulisse geschaffen und brachten der russischen Gesellschaft bei, dass kannibalistische, menschenverachtende Appelle laut geäußert werden können, ohne dass man sich dafür schämen muss. Die Trolle haben die verborgenen Gefühle gewissermaßen legitimiert. Zehn Jahre lang haben die Kreml-Bots diesen Geist nach und nach aus der Flasche gelassen.

Die Boulevardpresse spielt eine ähnliche Rolle in der Gesellschaft. Sie kokettiert in der Regel mit den niederen Interessen ihres Publikums, gibt dem Drang nach, in der schmutzigen Wäsche von Prominenten zu wühlen und befriedigt das Bedürfnis, in persönliche Tragödien von Menschen einzudringen. Trollfabriken flirten mit niederen Gedanken – sie heben Tabus auf und geben vermeintlich einfache Antworten auf schwierige Fragen.

Angehörige der Jugendarmee bei einer Siegesfeier am 9. Mai in Sewastopol auf der Krim-Halbinsel

Angehörige der Jugendarmee bei einer Siegesfeier am 9. Mai in Sewastopol auf der Krim-Halbinsel

Foto: ALEXEY PAVLISHAK / REUTERS

Vor zehn Jahren stand die Annexion der Krim noch gar nicht auf der russischen Nachrichtenagenda. Die russische Bevölkerung war keineswegs erpicht darauf, die Halbinsel zu erobern; es war kein wunder Punkt wie beispielsweise das Kosovo für die Serben oder Karabach für die Armenier und Aserbaidschaner. In Russland gab es keine öffentliche Forderung nach einer territorialen Erweiterung – die Annexion erfolgte fast spontan, und die Öffentlichkeit begann sich erst nach und nach dafür zu erwärmen. In den folgenden Jahren änderte sich jedoch die Tagesordnung. Die alte Norm ging im Wust des neuen radikalen Wahnsinns unter, der vielen bald nicht mehr als Wahnsinn erschien.

Ähnliche Prozesse fanden auch außerhalb Russlands statt, zum Teil dank derselben Trolle, zum Teil auf natürlichem Wege. Es stellte sich heraus, dass die sozialen Medien eine Schar von Dämonen freisetzen, die tödliche Ideen verbreiten.

Wer ist der härtere Falke?

Die vergangenen zwei Monate waren ein vernichtender Schlag gegen die Normalität. Was in der Ukraine geschieht, erschien im Februar fast allen in Russland apokalyptisch. Selbst die meisten russischen Fernsehzuschauer und die Mitglieder des Sicherheitsrates, die am 21. Februar, drei Tage vor Beginn des Krieges, hilflos auf Putin einredeten und zu erraten versuchten, was er von ihnen wollte, hätten dies als Wahnsinn und Albtraum empfunden.

Aber dann, nach Beginn der Invasion, begannen sie einen Wettstreit darüber, wer der härtere Falke sei – ein Wettstreit, den der ehemalige Präsident Dmitrij Medwedew gewann, jener Mann, der vor zehn Jahren noch wie eine Taube und ein Liberaler wirkte. Medwedews Äußerungen sind inzwischen so wahnsinnig, dass Putins Worte im Vergleich dazu wie der Gipfel der Mäßigung erscheinen. Lawrow und die russische Diplomatie spielen seit Langem dasselbe Spiel – sie geben Putin das Gefühl, die goldene Mitte zu sein.

Im Westen sind viele der Meinung, dass Putin diesen Krieg bereits verloren hat, und dass er nicht in der Lage sein wird, ihn als Sieg darzustellen. Aber so wirkt es nur, wenn man es von außen betrachtet. Von innen sieht es ganz anders aus. Putin sagt, er müsse einen Nato-Angriff auf Russland verhindern – und wenn es keinen Angriff gibt, hat er nicht schon verloren. Denn während des Krieges hat er seine Macht im Inneren maximal ausgebaut.

Bis vor Kurzem hatte Russland einen inhaftierten Oppositionsführer, Alexej Nawalny, und dessen große Zahl von Anhängern im Land, die Putin für einen Gauner und Dieb hielten. In den Gesprächen zwischen dem Kreml und dem Westen wurden stets auch die politischen Gefangenen und die Menschenrechte angesprochen. Aber das wirkt inzwischen weit von uns entfernt. Jetzt ist das alles vergessen, die alte Agenda ist zur Nebensache geworden, die neue Normalität legt nahe, dass Putins einziger Feind nicht Nawalny, sondern Joe Biden ist. Das bedeutet, dass alle inneren Feinde vom Kreml in aller Ruhe erledigt werden können. Vor dem Hintergrund der abscheulichen Verbrechen in der Ukraine wird das niemand bemerken. Alles, was weniger als ein Atomkrieg ist, ist bereits die Norm.